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Axel Voss - Freier Journalist

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Zum 60. Geburtstag von “Casablanca”

 Erschienen am 16.11.2002 in der Rhein-Zeitung

Mythos mit Fehlern

Und dann kommt die Stelle, an der die Herzen der Fans in aller Welt Tränendrang verspüren und den Atem anhalten. ”Spiel‘s noch einmal Sam, spiel es” bittet die schöne Blonde, und der schwarze Pianist hebt an: “ You must remember this, a kiss is still as kiss....”As time goes by.

Die Zeit vergeht, doch “Casablanca” bleibt. Der Kultfilm aller Kultfilme, wird 60 Jahre alt. Zwar gab es schon im November 1942 eine Preview, als offizieller Starttermin gilt jedoch der 23.1.1943. Denn das passte viel besser in die damalige politische Landschaft. Vom 14.bis 24.1.1943 trafen Roosevelt und Churchill auf der Konferenz von Casablanca zusammen, um über die gemeinsame Kriegsstrategie zu beraten.
Der Klassiker unter den Melodramen um Liebe, Tod und Edelmut in kitschiger Marokko-Kulisse, kein anderer Kultfilm hat eine so treue Gemeinde. Wenn im Berliner Arsenal “Casablanca” auf dem Spielplan steht, ist der Kinobesuch für Karsten Beck Pflicht, obwohl er den Steifen schon drei Dutzend mal gesehen hat. Mindestens. Warum er den Film nicht längst auf Video konserviert hat und je nach Gemütslage zu Hause anschaut? “Das wäre Frevel” meint der Medizinstudent. “Das kannst du nicht machen. Das wäre fast so schlimm wie einer Beatles LP mit Kopfhörern zu lauschen!”
“Casablanca”, der wohl populärste Film aller Zeiten, der erste Kultfilm überhaupt, tat auch das seinige dazu, dass zwei Künstler zu Legenden wurden. Die schöne Blonde und ihr Geliebter, der zynische Macho mit der vermeintlich harten Schale, hinter der sich ein weicher Kern verbirgt: Ingrid Bergman und Humphrey Bogart. Und “Casablanca” entstand unter nahezu abenteuerlichen Umständen. Zu Drehbeginn, im Mai 1942, war das Drehbuch noch unvollständig. Die Autoren Julius  und Philip Epstein waren sich noch nicht einmal einige über den Ausgang der Geschichte. Sie erwogen allen Ernstes, Rick sterben zu lassen, was weder Regisseur Michael Curtiz, noch Produzent Hal Wallis so recht mochten. Außerdem hätten die Bogart-Fans dies kaum goutiert. Bogie war zwar noch kein Superstar, hatte sich aber schon durch “Der Schatz der Sierra Madre” und  “Der Malteserfalke” durchaus einen Namen gemacht.
Andere Versionen: Laszlo flieht alleine, Ilsa bleibt bei Rick. Oder Rick und Ilsa verlassen Casablanca, Laszlo zieht wieder in den Kampf. Alles verworfen.
So drehte man parallel zu den Arbeiten am Drehbuch. Schließlich hatte auch David Selznick drei Jahre zuvor mit “Vom Winde verweht” ohne fertiges Drehbuch begonnen. Ein gutes Omen für “Casablanca”. Aber dann bekam Produzent Wallis kalte Füße. Die Gagen für die Stars weiter zu zahlen, während sie im schlimmsten Fall auf die Vollendung des Drehbuchs warten, hätte das finanzielle Aus bedeutet. Wallis heuerte einen zusätzlichen Drehbuchautor an. Howard Koch, der mit der Radio-Sensation “War of the Worlds” einige Jahre zuvor zu Ruhm gekommen war. “War of the Worlds” war die fiktive Reportage eines Angriffs von Marsmenschen auf die Erde, die, von Orson Welles inszeniert so realistisch wirkte, dass die Menschen ihre Häuser verließen, weil sie dachten, ihr letztes Stündlein habe geschlagen.
Auch die Dreharbeiten selbst gestalteten sich alles andere als einfach. Zum einen war es die cholerische Art von Michael Curtiz, mit der viele Schauspieler Schwierigkeiten hatten, zum anderen waren es eine Reihe von Problemen nach dem Motto: kleine Ursache, große Wirkung.
Wer heute gefragt wird, wer in “Casablanca” bei “As Time Goes By” Klavier spielt, bekommt meist zur Antwort: Dooley Wilson. Irrtum! Dooley war zwar ein ausgezeichneter Blues-Sänger, aber Klavierspielen konnte er nicht. Das Klavierspiel zu “As Time Goes By” stammt von dem Pianisten Elliot Carpenter, dessen Part zuvor aufgenommen wurde. Wilson sollte handsynchron zu einer Bandaufnahme mimen. Soweit so gut. Doch Curtiz hatte plötzlich, um einen besonders relalistischen Bareindruck zu schaffen, die Idee, auch Hintergrundgeräusche und Dialoge mit aufzunehmen. Das stellte den Tonmann vor Probleme. Er mußte die Playback-Musik so leise stellen, dass Wilson nichts mehr hören konnte. Die Situation wurde schließlich so gemeistert, dass Curtiz für Carpenter ein zweites Klavier aufstellen ließ. In Sichtweite von Wilson, aber außerhalb des Kamerawinkels, so dass Wilson einfach die Fingerbewegungen von Carpenter nachspielte. Die Klaviermusik zu “As Time Goes By” ist also eigentlich die Kopie einer Kopie einer Kopie.
Ein anderes, nettes Problem tauchte bei jener herzergreifenden Szene auf, in der Henreid das kleine Orchester zum Spielen der “Marseillaise” auffordert. Die Schauspielerin Madleine le Beau, die die Yvonne, die aktuelle Geliebte von Rick spielt, war von der Szene so bewegt, dass sie nach wenigen Takten hemmungslos schluchzte. Im Drehbuch war das nicht vorgesehen. Curtiz tobte, sie solle sich beherrschen. Vergeblich, der Take wurde ein Dutzend mal gedreht. Immer das Gleiche: die le Beau heulte wie ein Schloßhund. Schließlich gab Curtiz auf und ließ Madleine weinen. Eine richtige Entscheidung, so empfinden wir heute beim Anschauen von “Casablanca”.
Curtiz war ein Arbeitstier, der seine Truppe zu Höchstleistungen antrieb. Nicht nur in Sachen Qualität, auch beim Tempo. Fast hätte er die Drehbuchautoren eingeholt, hätten diese sich nicht die Nacht um die Ohren gehauen, um wenigstens die Szenen für den Folgetag zu schreiben. Auch Bogie nahm Einfluß auf Drehbuch und Text.
Er begann sogar, einige der Dialoge aus dem sogenannten “master script” zu ändern. Das führte zu dem Anachronismus, dass der Satz “Ich seh dir in die Augen, Kleines”, der zum Synonym für Casablanca geworden ist, auch in der englischen Übersetzung im Drehbuch nicht stand. Dort hieß es “Here’s good luck to you”. Erst Bogart macht daraus “Here’s looking at you kid”.
Die wohl schönste Panne ereignete sich während der berühmten Schlußszene auf dem Flughafen im dichten Nebel (obwohl in der Realität die Chancen auf Nebel in der Wüste eher gering sind). Die Szene entstand im Studio. Bedingt durch den (künstlichen) Nebel herrschten extrem schwierige Lichtverhältnisse. Das Auto mit Rains am Steuer mußte an einem bestimmten, mit Kreide markierten Punkt zu stehen kommen. Rains verfehlte diesen Punkt mindestens sechs mal. Curtiz tobte. Als Rains den Punkt endlich traf, hatte ein Kleindarsteller, der nur einen Satz zu sagen hatte (Yes Sir, this way please), seinen Text vergessen!
Wovon lebt der Mythos “Casablanca”? Letztlich ist es nur ein Film. Aber ein Film kann mehr sein als belichtetes Zelluloid. Erinnerungen an nicht verwirklichte Träume und Hoffnung auf das, was noch kommen könnte. Bis in die siebziger Jahre war Casablanca bei uns ein guter Film, der einen wichtigen Platz in Bogart- oder Bergman Retrospektiven hatte. Mehr nicht. Denn, heute erscheint uns das unglaublich, bis 1975 lief eine falsch synchronisierte Fassung in den deutschen Kinos. In der deutschen Fassung aus dem Jahr 1951 fehlten 24 Minuten! Der gesamte politische Bezug war eliminiert und die Transitvisa mutierten zu einer geheimen wissenschaftlichen Formel. Erst die Fassung, die die ARD 1975 in Auftrag gab, entspricht dem Original und gab “Casablanca” den mythischen Schub. Die Widerstandsstimmung der 68er-Generation war noch immer deutlich spürbar. Victor Laszlo und Rick Blain waren Helden, die genau in die politische Landschaft passten. “Casablanca” wurde zu einem Lebensgefühl und mit “dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft” konnte man alles besiegeln, egal ob Männerfreundschaft oder Liebesbeziehung.
“Casablanca”, so bemerkte einst Umberto Eco, sei alles und überall - und außerdem unsterblich. Bevor wir also zum Geburtstag vor Verzückung vollends aus dem Häuschen geraten, belassen wir es einfach dabei. Denn eins ist “Casablanca” ganz gewiß: unsterblich!