Axel Voss - Freier Journalist

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Über die analoge Schallplatte

 Erschienen am 11.1.2002 im Handelsblatt und im Wall Street Journal

Eine runde Sache

Dirk Fage ist HiFi-Enthusiast. Trotzdem steht bei ihm keine einzige CD im Regal. Der Werbefachmann aus Neuss mit dem Faible fürs Audiophile hält nicht viel von den Silberlingen und schwört auf die gute alte Langspielplatte. Fage liegt mit seiner Ansicht im Trend. Nach Jahren der CD-Euphorie erfreut sich Vinyl bei Musikfreunden wieder großer Beliebtheit und sorgt für steigende Umsätze bei den Herstellern von Plattenspielern, fast ausnahmslos kleine Spezialisten, die keinen technologischen Aufwand scheuen.
Der Neusser spielt seine schwarzen Scheiben auf dem Modell ‚Gravitá‘ der Edelschmiede Räke HiFi aus Bergisch-Gladbach ab. ‚Gravitá‘, das klingt nach Schwere. In der Tat, ‚Gravita‘ bringt veritable 150kg auf die Waage, misst 60 x 60 x 120cm und kostet die Kleinigkeit von 55.000 Euro. Mit seinem kostbaren Plattenspieler befindet Dirk Fage sich in bester Gesellschaft, denn ‚Gravita‘ sorgt u.a. auch bei Michail Gorbatschow und bei Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker für den richtigen Ton.
“‘Gravitá‘ ist unser Spitzenmodell. Mit ihm sind wir an die Grenze dessen gestoßen, was technisch machbar ist. Von den neuen Erkenntnissen profitiert unsere ganze Modellpalette” weiß Geschäftsführer Jochen Räke.
Das scheint Fan-Gemeinde zu überzeugen. 800 bis 1000 Plattenspieler verlassen die Audio-Manufaktur jedes Jahr. Tendenz steigend.
Sie sehen aus wie Exponate des ‚Museum of Modern Art‘ und kosten auch nicht unbedingt soviel wie ein 8-Zylinder Mercedes der E-Klasse, wie der ‚Transrotor Classic‘ für 3.000 Euro. Wer es etwas üppiger mag, greift zu ‚Fat Bob‘ (4000 Euro, zum Tourbillon (14.300 Euro) oder zur ‚Quintessence 2000‘(26500 Euro).
Jedes Modell ist von der achtköpfigen Belegschaft per Hand zusammengeschraubt und liefert, wie Räke glaubhaft versichert “einen weitaus besseren, angenehmeren Klang als ein CD-Spieler”.
Mike Bolatzky, Produkt-Experte beim Branchenriesen Panasonic (Markenname ‚Technics‘) bestätigt Räkes Einschätzung: “Auf einer CD sind systembedingt nur Töne zwischen 20 und 22.000 Hz gespeichert. Die analoge Schallplatte schafft deutlich mehr. Die Oberwellen (über 22.000 Hz) sind zwar nicht direkt hörbar, beeinflussen aber positiv den akustischen Gesamteindruck.”
Eine digitale CD-Aufnahme hat im Gegensatz zu einer analogen Aufnahme keine weiche, runde akustische Kurve, sondern zeigt - bildhaft gesprochen - eine Art Treppe mit Stufen. Was zwischen den Stufen liegt, ist nicht hörbar und verfälscht das ursprüngliche Original.
CD-Fanatiker, die den Analogfreak als ewig Gestrigen belächeln, halten mit dem scheinbar greifenden Argument dagegen, dass heutzutage fast alle Tonstudios digital produzieren. Eine Vinylscheibe wäre nur die analoge Kopie des digitalen Originals. Das mag prinzipiell richtig sein, jedoch zeichnet sich der Trend ab, bei hochwertigen Aufnahmen parallel zu produzieren, digital für den Massenmarkt, analog auf Vinyl für die kleine Minderheit der akustischen Feinschmecker. Und die Musikindustrie verfügt über Millionen von analogen Musikkonserven, die nur darauf warten, wieder zu Leben zu erwachen.
Ein anderes Argument, dass scheinbar für die CD spricht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als gefährlich. Der Silberling ist keinesfalls so unempfindlich, wie man glaubt. Über dem Polycarbonat, in dem die musikalischen Informationen gespeichert sind, liegt eine dünne Aluminiumschicht, darüber zwei Schutzlackschichten, die maximal 25µ dick sind. Wird die Lackschicht, und sei es auch nur durch Haarrisse beschädigt, oxidiert das Aluminium. Mit fatalen Folgen für die gespeicherte Information. Professor Henning Hopf von der TU Braunschweig schätzt die Haltbarkeit von CDs auf etwa 25 bis 30 Jahre: “Das ist ein ernstes Problem.” Analoge Schelllackplatten aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts sind dagegen - pflegliche Behandlung vorausgesetzt - auch heute noch abspielbar.
Dirk Fage braucht sich keine Sorgen zu machen. Seine Lieblingsplatte, Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 G-Moll Op. 26 von Max Bruch, mit Yehudi Menuhin, werden auch seine Enkel noch abspielen können. Analoge Schallplatten sind eben eine runde Sache.