|  | Sich-Verweigern erfordert Guerilla-Mentalität München, 10. April 1968. Der 23 Jahre alte Hilfsarbeiter Josef Bachmann besteigt um 21.52 Uhr den Nachtexpress nach Berlin. 
                                In seinem Gepäck befindet sich unter anderem eine alte Pistole.Gut 18 Stunden später wird Bachmann sie in der geteilten Stadt auf einen jungen Mann richten und abdrücken, auf Rudi Dutschke, charismatisches Idol 
                                einer ganzen Studentengeneration, Kopf der außerparlamentarischen Opposition (APO) und ihr wohl berühmtester Vordenker. Die Nachricht vom Attentat geht um die Welt. Wie die sechs Tage zuvor, als James Earl Ray den 
                                Führer der amerikanischen Farbigen-Bewegung, Martin Luther King, erschossen hatte.
 Verzweiflung, 
                                Wut und Ratlosigkeit machen sich am frühen Abend des Gründonnerstag 1968 im Zentrum des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS breit. Als die Nachricht durchsickert, dass Rudi Dutschke den Anschlag überlebt 
                                hat, versammeln sich wenige Stunden später mehr als 5000 Menschen zu einer Demonstration am Springer-Hochhaus an der Kochstraße. Für die Studenten gilt der Konzern als Hauptschuldiger an dem Mordanschlag, da seine 
                                Zeitungen, insbesondere die BILD-Zeitung, erst die Voraussetzungen für eine so ungeheuerliche Tat geschaffen hätten. Über die gesamten Osterfeiertage ziehen sich Demonstrationen hin, die sich auf die gesamte 
                                Bundesrepublik ausbreiten.
 “Es kam zu Straßenschlachten, wie sie Westdeutschland seit der Weimarer Republik nicht mehr gekannt hatte” schreibt der SPIEGEL in seiner Ausgabe über die “Osterunruhen”. Der Berliner 
                                Bezirk Kreuzberg, in dem der Springer-Konzern seinen Hauptsitz hat, steht am Rande eines Bürgerkriegs.
 Deutschland war mitten im Krieg, als Rudi Dutschke 1940 in Luckenwalde, also in der späteren DDR, geboren 
                                wird. Das Elternhaus ist protestantisch, sein Vater Postbeamter. In dieser Umgebung entsteht schon früh die Idee eines christlichen Sozialismus in Symbiose mit biblischem Pazifismus, der u.a. einen Höhepunkt in 
                                Aktionen findet, wie die während eines Weihnachtsgottesdienstes im Jahr 1966. Im vollen Gotteshaus zeigt Dutschke der Gemeinde das Plakat eines gefolterten Vietkong und verliest dazu den Matthäus-Vers: “Was ihr 
                                getant habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan”. Damals eine ungeheuerliche Provokation. Heute eine auf jedem Kirchentag als respektierte Aktion engagierter Christen durchaus 
                                vorstellbar.
 Das Sich-Verweigern erfordert Guerilla Mentalität, eine der berühmten Dutschke Maximem, versperrt ihm schon früh die Möglichkeit, im SED Staat zu studieren. Der begabte junge Leichtathlet wollte 
                                eigentlich Sportjournalist werden, verbaut sich diese Möglichkeit aber, als er auf der Abiturfeier offen und lautstark gegen den Eintritt in die Nationale Volksarmee stimmt.
 Also zieht Dutschke kurz vor dem 
                                Mauerbau in den Westteil der Stadt und beginnt an der FU Berlin das Studium der Soziologie. Mit Tuchfühlung zu den linken Theoretikern und in enger Beziehung zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund, SDS, in 
                                dessen Vorstand er berühmt und von vielen Gegner gefürchtet wird.
 Die zwei zentralen politischen Ereignisse, die fruchtbaren Boden für die Aktivitäten des SDS und der Ausserparlamentarischen Opposition bieten, 
                                waren 
                                 der Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der von einem Polizeibeamten am 2.6.1967 im Zuge der Anti-Schah-Demonstrationen erschossen wurde, und die Bildung der Großen Koalition im Jahr zuvor bzw. die Notstandsgesetze.
 Rudi Dutschke O-Ton: “Die Große Koalition als der hoffnungslose Versuch der herrschenden Oligarchien, die strukturellen Schwierigkeiten des Systems zu lösen, stößt immer deutlicher auf objektive Schranken”.
 Geschult durch die Thesen von Mao, Adorno und Marcuse lehnt Dutschke, bei aller Bereitschaft zur scharfen Kritik, die direkte Gewalt strikt ab und fordert zum ‚Marsch durch die Institutionen‘ auf.
 Nach Dutschkes 
                                Auffassung wird es zum Allgemeingut aller denkenden Christen, dass der historische Materialismus von Marx ein unentbehrliches Instrument sei, den tiefen Umbruch der Verhaltensweisen real zu ermöglichen. Dutschkes 
                                ohnehin schon radikale und kritische Tendenz als Mitglied des evangelischen Studentenvereins wird durch die marxistische Philosophie eines Marcuse erweitert und verschärft. Für Dutschke werden die Marxisten 
                                ihrerseits die aktuelle Bedeutung jenes ethischen Provokationsprinzips begreifen müssen, das in der Bergpredigt Jesu Christi liegt.
 Die Liebe ist für Jesus Christus Band Programm und Maßstab, schließt aber keinesfalls den Kampf aus, um eben diese Liebe zu ihrem Recht kommen zu lassen: ‚Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert‘ (Matthäus). In Spannung von Liebe und Zorn, nicht Hass, wird in der Bibel gelebt und gedacht.
 Diese Maxime Dutschkes äußert sich auch in dem Umstand, dass er versucht, mit seinem Attentäter, der später Selbstmord in der Zelle begehen wird, in den Dialog zu treten. Er bleibt einseitig.
 Im Oktober 1969 
                                beginnt die erste sozialliberale Koalition. Diese politische Zäsur eröffnet dem Land größere Chancen auf Liberalität und läutet zugleich den Anfang vom Ende der APO ein.
 Nach langer Krankheit nimmt Rudi Dutschke 
                                1971 seine Studien wieder auf und promoviert über den ungarischen Marxisten G. Lukás zum Dr. phil. Später zieht es ihn nach Aarhus in Dänemark, um an der dortigen Universität einen Lehrauftrag anzunehmen. Nach wie 
                                vor sind für Rudi Dutschke Freiheit, Demokratie und Menschenrechte begründende und haltende Glieder einer sozialistischen Perspektive – jener Negation der ‚allgemeinen Staatssklaverei‘ und des kapitalistischen 
                                Wertgesetzes. Er setzt sich vehement für die Freilassung des in der DDR inhaftierten Journalisten Rudolf Bahro ein.
 Er unterstützt die Gründungsbemühungen der links-alternativen Tageszeitung ‚taz‘ gleichermaßen, 
                                wie die andere Strömungen, z.B. die Gründung von Bürgerinitiativen, die sich später zu den Grünen zusammenschließen, die heute mit Joschka Fischer den Außenminister stellen. Der Marsch durch die Institutionen hatte 
                                also längst begonnen. Am Heiligabend 1979 stirbt Rudi Dutschke völlig unerwartet an den Spätfolgen des Attentats von 1968. Sein Freund, der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer lässt ihn in Berlin Dahlem 
                                begraben. In einer leeren Grabstätte, die eigentlich einmal für Dietrich Bonhoeffer angelegt wurde. Dass Gollwitzer seinen rebellischen Freund und engagierten Christen im Grab eines großen Märtyrer der Kirche 
                                beerdigen ließ, dürfen wir sicher als Symbol auffassen.
   |  |