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Axel Voss - Freier Journalist

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Über das Drachen-Festival auf der dänischen Insel Fanoe

 Erschienen am 16.6.2004 in der WELT

Es ist jedes Jahr das gleiche. Spätestens Mitte Januar befällt Dieter Kessler, und nicht nur ihn, eine seltsame Unruhe. „Noch ein halbes Jahr habe ich Zeit“ meint der 40jährige Optiker aus Hamburg und fügt grinsend hinzu: „Dann muß ein neues Teil fertig sein!“
Das Teil, von dem Kessler spricht, ist keinesfalls eine Brille, sondern ein
Drachen. Unruhig wird Kessler, weil er nicht mehr allzu viel Zeit hat, denn Mitte Juni will er auf die dänische Nordseeinsel Fanö fahren, wo sich alljährlich im Sommer die Fans der bunten Vögel zum Internationalen Drachenfliegertreffen zusammenfinden. Und es ist Ehrensache, dabei eine neue Kreation vorzustellen.
Einen Drachen in sechs Monaten zu bauen, das sollte doch kein Problem sein. Oder? Eine Leiste längs, eine Leiste quer, darüber Pergamentpapier. Fertig ist der Drachen. Darüber kann Dieter Kessler nur müde lächeln. Seine Werkstatt ist die Turnhalle einer Schule im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Wo unter der Woche Spagat und Bocksprung trainiert werden, entstehen am Wochenende Drachen! Die Turnhalle braucht der Hamburger, weil seine Werke jedes Wohnzimmer unter sich begraben würden. Bis zu 35 Meter messen seine fliegenden Ungetüme. Und für die Herstellung solcher Monstren braucht Kessler ein paar Monate.
Seine Drachen haben Segel aus Spinnakernylon, das gleiche Material, aus dem Yachtbauer Segel für Hochleistungsboote herstellen.
Angefangen hat alles ganz harmlos. 1985 hatte der Hamburger Ingenieur Wolfgang Schimmelpfennig die Idee, sich mit ein paar Gleichgesinnten auf Fanö über ein verlängertes Wochenende zu treffen, um Drachen steigen zu lassen. Die Voraussetzungen waren perfekt. Fanö hat einen riesigen Strand, der sogar mit dem Auto befahren werden darf, und 1985 fiel der 17. Juni, ehemals Tag der Deutschen Einheit, auf einen Montag. Ideal für ein verlängertes Wochenende für knapp 30 Drachenverrückte.
Dass Schimmelpfennig mit seiner Aktion eine Lawine in Gang setzte, hätte er sich wohl nicht träumen lassen. Fanö als perfektes Flugrevier sprach sich in der Szene schnell herum. 1986 trafen sich schon etwa 60 Freunde der bunten Vögel auf der Insel, im Jahr darauf war die Hunderter-Grenze locker überschritten.
Inzwischen ist die Fan-Gemeinde auf mehrere Tausend gewachsen. „Genau zählen kann man das nicht mehr“ so Schimmelpfennig. Und es sind keineswegs nur Drachenfreunde aus Deutschland. Aus Holland, Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, ja sogar aus Japan, China und den USA touren die Fans jedes Jahr Mitte Juni nach Fanö.
Urs Bühler aus Bern ist hellauf begeistert. „Bei uns, in der Schweiz, müssen wir manchmal wochenlang auf so beständige Windverhältnisse warten. Dafür setzte ich mich gerne 15 Stunden ins Auto. Außerdem bin ich tako kichi.“ Tako = japanisch für Drachen und kichi für verrückt, kennzeichnet die Szene.
„Wind haben wir bei und zwar auch“, erzählt Jan Pieter aus Den Haag, „aber die Atmosphäre hier ist einfach unbeschreiblich. Du fühlst dich wie in einer tausendköpfigen Familie.“ Der 70-jährige Holländer ist froh, noch eines der begehrten Ferienhäuschen bekommen zu haben. Fanö gilt sonst eher als ruhig und beschaulich, in der Zeit um Mitte Juni ist jedoch auch die kleinste Hütte ausgebucht.
Peter Lynn nimmt sogar die weite Anreise aus Neuseeland in Kauf. „Fanö is absolutely gorgious – Fanö ist absolut großartig“ meint der sympathische Neuseeländer, der in der Szene als Guru gilt, und auf seinen Reisen nach Dänemark bisweilen seinen Megabite im Gepäck führt, ein Ungetüm von Drachen mit ca. 635qm Auftriebsfläche, Materialkosten mehr als 15.000 Euro. Vertäut wird der Drachen an einem eilig von Inselbewohnern herbeigeschafften Raupenschlepper.
Natürlich geht's auch preiswerter. Am Samstag des Meetings gleicht der Himmel über der Insel einem Farbenmeer ohne gleichen. Da können locker 10.000 und mehr Drachen am Himmel stehen. Ihre Erbauer kommen aus allen Bevölkerungsschichten. Was treibt sie an?
„Es ist wohl der Kampf mit dem Wind, das Spiel mit den Naturkräften, und vielleicht auch der ewige Traum des Menschen vom Fliegen. Es ist ein tolles Gefühl, wenn das, was du in wochen- oder gar monatelanger Arbeit an der Nähmaschine angefertigt hast, in den Himmel steigt“ beschreibt Kessler die Faszination seines Hobbys. Ganz falsch liegt der Hamburger damit nicht. Schließlich muss es einen Grund dafür geben, dass sich immer mehr Menschen vom Windspielfieber anstecken lassen.
Ein Fieber, das übrigens schon mehrere tausend Jahre alt ist. Wissenschaftler vermuten, dass der Drachen im 4. Jahrhundert vor Chr. in China das Licht der Welt erblickte. Mehrfach belegt ist der Bericht über den General Han Hsin, der 169 v. Chr. einen Drachen benutzt habe, um die Distanz zwischen einem feindlichen Palast und seinen Truppen zu messen, so dass die Strecke eines Tunnels festgelegt werden konnte, durch den der Palast dann auch erobert wurde.
Seide, das traditionelle Baumaterial für Drachen, war im frühen China sehr teuer und die Beschäftigung mit Drachen ein Privileg reicher Menschen. Erst die Erfindung des Papiers ermöglichte breiten Bevölkerungsschichten, Drachen zu bauen.
Marco Polo importierte den Drachen nach Europa, wo er allerdings jahrhundertelang nicht so recht flügge wurde. 1590 erwähnte Giovanni della Porta in seiner ‚Magiae Naturalis‘ mit einer bemerkenswert ausführlichen Beschreibung einen chinesischen Rechteckdrachen. Mitte des 16. Jahrhunderts gewann der Drachen plötzlich wissenschaftliche Bedeutung. 1749 ließ der Schotte Alex Wilson Thermometer an Drachen aufsteigen, um so Temperaturunterschiede der Luft in verschiedenen Höhen zu messen. Die größte bei diesem Experiment erreichte Höhe betrug 915 Meter. Drachenfreunde anno 2004 werden sich wehmütig an diese Zeiten erinnern. Das Auge des Gesetzes erlaubt heute nur eine maximale Länge der Flugleine von 100 Metern.
1752 ließ Benjamin Franklin auf der Suche nach dem Blitzableiter den Drachen los. Seine Gebilde stiegen empor, um als riesige Kondensatoren den Beweis zu erbringen, dass im Blitz elektrische Energie steckt.
Gut 70 Jahre später wurde der Drachen als Transportmittel eingesetzt. Eine pfiffige Idee des englischen Lehrers George Pocock: Er spannte ein paar große Drachen vor seine Kutsche. Mit dem 1826 patentierten Gefährt soll er eine ‚Höllengeschwindigkeit‘ erzielt haben. Dabei sparte der pfiffige Schulmeister nicht nur Hafer, sondern auch Wegzoll. Für Fahrzeuge jeder Art waren damals Strassengebühren zu entrichten. Aber so eifrig die Zolleinnehmer auch in ihren Verzeichnissen blätterten – von Drachenkutschen stand nichts drin. Freie Fahrt für Pocock. 
Maßgeblich beeinflusst hat die Entwicklung des Drachens auch der 1864 nach Australien ausgewanderte Engländer Lawrence Hargrave. Er erfand den revolutionären Kastendrachen. Es war zwar allgemein bekannt, dass man mit zwei übereinanderliegenden Segeln zusätzlichen Auftrieb erzielen konnte, aber Hargrave erkannte als erster die stabilisierende Wirkung von senkrecht einbezogenen Flächen. Kastendrachen nach dem Hargrave-Prinzip wurden bis in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Meteorologie eingesetzt.
20 Jahre später revolutionierte der Amerikaner Dom Jalbert den Drachenbau. Seine Drachen kamen ohne Gestänge aus! Der Wind bläht mehrere luftmatratzenähnlich aneinandergefügte Stoffzellen nach dem Staudruckprinzip auf; das Profil der Zellen sorgt für den erforderlichen Auftrieb.
Jalberts Idee, die er Parafolie nannte, trug maßgeblich zu den Konstruktionen bei, mit denen die Amerikaner später Systeme zur Rückführung von Weltraumkapseln entwickelten.
Seien es die Visionen von Hargrave oder die bahnbrechenden Einfälle von Jalbert, sie alle leben heute weiter. Entweder in der ursprünglichen Form oder in modifizierten Konstruktionen.
„Prinzipiell kannst du alles zum Fliegen bringen“ weiß Drachenexperte  Scott Skinner. Der Amerikaner aus Monument, Colorado, ist seit Jahren regelmäßig Teilnehmer des Meetings und erklärt: „Denk‘ dir die Form aus, leg die Bauweise fest, und mach dir Gedanken über die Waage, also in welchem Winkel das Werk zum Wind stehen soll.“
Nicht zuletzt darin liegt der Reiz beim Spiel mit dem Wind. Es zählt eben nicht nur die Kraft, die erforderlich ist, um auch große Gebilde an den Himmel zu hängen, sondern auch Kreativität und Ideenreichtum, die eigenen Vorstellungen erfolgreich umzusetzen. Dieter Kessler schätzt Fanö nicht nur als Flugrevier, sondern auch als eine Art Technologie-Börse und erzählt: „Auf Fanö werden jedes Jahr auch Tipps und Tricks ausgetauscht. Jeder trägt dazu bei, dass du bei einem Jungfernflug nicht aus deinen Träumen gerissen wirst!“ Aus Träumen an der langen Leine.

Infokasten:

Termin 2004: 17. – 20. Juni